Rainer Boldt †
1968
Rainer
Boldt †
1967: I HAD A DATE WITH A PRETTY BALLERINA (Kamera)
1968: BUSSUNDBETTAG (Regie, Produzent)
1968: DIE ZEIT HAT ZUGEBISSEN (Regie, Drehbuch, Kamera)
1968: WALZER 3 (Kamera, Produzent)
1968: DAS ANTLITZ DES MÖRDERS (Regie, Produzent)
1969: VOR INDIEN (Regie)
1969: UNSER AUFTRAG (Co-Regie, Drehbuch, Kamera)
1969: KUNSTPREIS 69 (Regie, Drehbuch, Kamera, Produzent)
1969: WOCHENSCHAU I: REQUIEM FÜR EINE FIRMA (Co-Regie)
1970: ZODIAK (Regie)
1970: SCHÜLERFILM III (Regie)
1970: THE MASTER COPY (Regie, Kamera)
1971: ACH, VIOLA (Regie, Kamera)
1973: ALLES LIEBE (Kamera)
1974: DIE 7-TAGE-WOCHE DES DRAHTWEBERS PIECHOTTA (Regie)
1974: ZWEI TAGE FÜRS LEBEN (Regie)
1975: TATORT: MORDGEDANKEN (Drehbuch)
1976: DIE WAHL (Regie)
1976: FEHLSCHUSS (Regie)
1976: MENSCHENFRESSER (Regie)
1977–1982: NEUES AUS UHLENBUSCH, 8 Folgen (Regie, Drehbuch)
1979: ESCH ODER DIE ANARCHIE (Regie, Drehbuch)
1979: FEUERZEICHEN (Regie, Drehbuch)
1980: ICH HATTE EINEN TRAUM (Regie, Drehbuch)
1981: ELISABETHS KIND (Regie)
1982: DENKSTE!? 1 Folge (Regie, Drehbuch)
1983: IM ZEICHEN DES KREUZES (Regie, Drehbuch)
1983: TEUFELSMOOR, 3 Folgen (Regie)
1985: SÄNTIS (Regie)
1986: ALLES AUS LIEBE (Regie)
1987: DAS RÄTSEL DER SANDBANK (Regie, Drehbuch)
1987-1990: HALS ÜBER KOPF, 13 Folgen (Regie, Drehbuch)
1989: DER GESCHICHTENERZÄHLER (Regie, Drehbuch)
1990: LIEBESGESCHICHTEN, 3 Folgen (Regie)
1990: RON & TANJA, 6 Folgen (Regie)
1993–1998: NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN, 35 Folgen (Regie, Drehbuch)
1995: DER RICHTER UND DAS MÄDCHEN (Regie)
1996: SINGLES (2 Folgen) (Regie)
2000: UTTA DANELLA – DER SCHWARZE SPIEGEL, 1 Folge (Drehbuch)
1968: BUSSUNDBETTAG (Regie, Produzent)
1968: DIE ZEIT HAT ZUGEBISSEN (Regie, Drehbuch, Kamera)
1968: WALZER 3 (Kamera, Produzent)
1968: DAS ANTLITZ DES MÖRDERS (Regie, Produzent)
1969: VOR INDIEN (Regie)
1969: UNSER AUFTRAG (Co-Regie, Drehbuch, Kamera)
1969: KUNSTPREIS 69 (Regie, Drehbuch, Kamera, Produzent)
1969: WOCHENSCHAU I: REQUIEM FÜR EINE FIRMA (Co-Regie)
1970: ZODIAK (Regie)
1970: SCHÜLERFILM III (Regie)
1970: THE MASTER COPY (Regie, Kamera)
1971: ACH, VIOLA (Regie, Kamera)
1973: ALLES LIEBE (Kamera)
1974: DIE 7-TAGE-WOCHE DES DRAHTWEBERS PIECHOTTA (Regie)
1974: ZWEI TAGE FÜRS LEBEN (Regie)
1975: TATORT: MORDGEDANKEN (Drehbuch)
1976: DIE WAHL (Regie)
1976: FEHLSCHUSS (Regie)
1976: MENSCHENFRESSER (Regie)
1977–1982: NEUES AUS UHLENBUSCH, 8 Folgen (Regie, Drehbuch)
1979: ESCH ODER DIE ANARCHIE (Regie, Drehbuch)
1979: FEUERZEICHEN (Regie, Drehbuch)
1980: ICH HATTE EINEN TRAUM (Regie, Drehbuch)
1981: ELISABETHS KIND (Regie)
1982: DENKSTE!? 1 Folge (Regie, Drehbuch)
1983: IM ZEICHEN DES KREUZES (Regie, Drehbuch)
1983: TEUFELSMOOR, 3 Folgen (Regie)
1985: SÄNTIS (Regie)
1986: ALLES AUS LIEBE (Regie)
1987: DAS RÄTSEL DER SANDBANK (Regie, Drehbuch)
1987-1990: HALS ÜBER KOPF, 13 Folgen (Regie, Drehbuch)
1989: DER GESCHICHTENERZÄHLER (Regie, Drehbuch)
1990: LIEBESGESCHICHTEN, 3 Folgen (Regie)
1990: RON & TANJA, 6 Folgen (Regie)
1993–1998: NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN, 35 Folgen (Regie, Drehbuch)
1995: DER RICHTER UND DAS MÄDCHEN (Regie)
1996: SINGLES (2 Folgen) (Regie)
2000: UTTA DANELLA – DER SCHWARZE SPIEGEL, 1 Folge (Drehbuch)
1975: ADOLF-GRIMME-PREIS, ehrende Anerkennung
1994: TELESTAR für die Serie NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN
1994: BAMBI für die Serie NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN
1994: TELESTAR für die Serie NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN
1994: BAMBI für die Serie NICHT VON SCHLECHTEN ELTERN
Aus: Johannes Beringer, „Minoritäre Filme. Die eigenen Angelegenheiten.“
Dortmund (edition offenes feld) 2020, S. 108-114.
ACH VIOLA
(Rainer Boldt, BRD 1971, 16mm, s/w, Farbe, 36 Minuten)
Eine Exposition, die es in sich hat!
Eine Totale nimmt, aus einer Seitenstrasse heraus, einen Aspekt der ‚Schlacht am Tegeler Weg’ in Westberlin auf – wildes Geschehen, Wasserwerfer, Polizei, steinewerfende Demonstranten (ein Häufchen Pflastersteine liegt wie griffbereit am Strassenrand). Das Bild friert ein, wird zum Standbild, das sich langsam aufzulösen scheint – sich verkehrt zum Negativ. Eine helle Männerstimme (der Autor?) gibt im Off eine Bestandesaufnahme der Ausserparlamentarischen Opposition. (Dieser Novembertag 1968, an dem sich die aufgestaute Wut über die Nazi- und Klassen-Justiz Luft machte, die Polizei in die Flucht geschlagen wurde, war Apotheose und Endpunkt der APO.)
„Westberlin im November 1970“. Musik hat eingesetzt, nachtdunkle Gebäude, abgesetzt gegen den helleren Nachthimmel, dann schwarze Nacht, ein paar Lichter, man erkennt die Leuchtschrift ‚First National City Bank’, den sich auf dem Europacenter drehenden Mercedes-Stern, ein Polizeiauto, das Gesicht einer Frau – schläft sie, träumt sie? Über der ganzen nächtlichen Sequenz – zu spüren sozusagen die kalte kapitalistische Hand auf der Stadt – hängt der (statische) symphonische Akkord von Charles Ives’ „The Unanswered Question“, mit der darüber gesetzten, von der Trompete formulierten Frage, den immer erratischer werdenden Antworten der Bläser. Die Musik verklingt dissonant – in die Stille hinein hört man eine Kirchenglocke sechs Mal schlagen. Die Frau (Marianne Lüdcke als Viola) hat die Augen geöffnet, liegt nun wach im Bett, das Zifferblatt der Uhr an ihrem Arm leuchtet ins Halbdunkel, gibt das Diktat des getakteten Alltags vor. Sie steht auf, macht Licht, nimmt ein Medikament.
Zuvor schon (flashartig) eine Einstellung aus einem Chemielabor – jetzt tun die zwei Frauen, die da arbeiten, ihren Überdruss kund: sie haben genug davon, tagaus, tagein Urinproben zu analysieren – eine Veränderung muss her. Viola hat ihren Job auf Ende Monat gekündigt, will das Abitur nachmachen. Und politisch arbeiten.
Aber wie? Was tun? Rainer Boldt versammelt Bruchstücke einer Auseinandersetzung zwischen denen, die auf die Theorie und die Parteilinie setzen, und jenen, die ihnen vorwerfen (wie Viola), dass bei ihnen „immer alles so unheimlich richtig sein soll“, dass sie aber jedes Risiko scheuen und nichts mehr an Widerstand wagen. Bei einer Diskussion zu mehreren am Wirtshaustisch wird dieses Gegenüber schon räumlich gesetzt, dann auch bei einem kurzen Dialog zwischen Viola und ihrem Freund in der U-Bahn.
Es gibt, davor, jedoch auch die nächtliche Umarmung der beiden vor diesem unheimlichen Gebäudekomplex (einer Kriegshinterlassenschaft, aus der „doch irgendwas zu machen“ wäre), wobei die Dunkelheit ihre beiden Körper fast verschluckt. Das Prekäre ihrer Beziehung scheint sich jedoch schon in der Klangschärfe der Stimme des Mannes mitzuteilen – der Intonation des Satzes zum Beispiel, mit dem er die Freundin begrüsst: „Geht es dir gut, ja?“
Viola hat sich, mit zwei anderen, zum ‚Fanal’ entschlossen – der Plan ist, ein Polizeiauto hochgehen zu lassen durch einen Brandsatz. Rainer Boldt macht diesen Entschluss jedoch nicht verbal klar, sondern körperlichsinnlich durch die langen Momente zu Hause, wo Viola für sich ist, frühmorgens: wie sie (wie für das unbekannte Nachhinein) die ärgste Unordnung beseitigt, die Wäsche wegräumt, die Medikamente in eine Tüte packt, Papiere ordnet (ein Packen Flugblätter mit einem Streikaufruf fliegt zu Boden), Wasser aufsetzt, etwas zu sich nimmt, ein Auto-Nummernschild samt verhüllender Zeitung in eine Plastiktüte steckt, vor dem Spiegel ihr Gesicht schminkt und ihre Jacke sorgfältig von oben bis unten zuknöpft, dann wie regungslos wartet, bis sie – auf das Klingeln des verabredeten Anrufs hin – das Haus verlässt. Und, weil es früher ist als gewohnt, auf der Treppe gleich einem Hausbewohner in die Arme läuft, mit dem sie ein paar verbindliche Worte wechseln muss.
Der Anschlag selbst wirkt dann geradezu läppisch – das morgendliche Licht (das in strengem Gegensatz steht zum Vorherigen des Films) lässt das Geschehen nüchtern erscheinen, ernüchtert wohl auch die Kombattanten, die im Fluchtauto erst einmal schweigen. Und sich daraufhin ein paar Gedanken machen, ob sie erkannt worden seien, wie es weitergehen könnte. Auf die Erwägungen, die vom Genossen auf dem Hintersitz kommen – er sagt, es gehe darum, ein „Bild“ zu setzen, wie Gewalt zu brechen sei und spricht von „Verweigerung, auch der herrschenden Moral“ –, entgegnet Viola: „Ich seh’ das alles ganz anders.“
Ach Viola (das war der Abschlussfilm von Rainer Boldt an der Deutschen Film- und Fernsehakademie) [1] hebt sich von andern DFFB-Produktionen aus der Zeit ab – ist filmisch und ästhetisch avancierter. Das ist ein Geflecht von sorgfältig montierten Einstellungen und Tönen; der Film arbeitet nicht nur mit Realzeit, sondern auch mit Wiederholungen, Variationen, stellt einen Empfindungs- und Denkraum her. Das bedeutet aber auch, dass das ‚eingreifende Filmen’ und vor allem das Konzept des ‚Zielgruppenfilms’ verabschiedet ist – zugunsten des Autorenfilms. Das scheint mir legitim, insofern das ja auch wie ein Blick von aussen ist – ein Soziogramm einer Gruppe von Leuten vielleicht, ein Verweis auf die Zeit. Der Einsatz der Musik, „Die unbeantwortete Frage“ – ihr ist später ein gesummtes, instrumental werdendes Liedchen („Backstreet Girl“ von Jagger und Richards) hinzugesetzt –, mag zwar auf die Aktualität, die Zeit zielen, weist aber auch stark darüberhinaus. Will den Lauf der Welt in sich hereinnehmen oder anrufen.
(Merkwürdig die Rolle, die gerade dieses Stück von Ives damals bei einigen Filmakademisten und Ex-Filmakademisten gespielt hat, auch bei Harun Farocki, aber scheinbar unabhängig voneinander. Bei solchen wohl, die operativ dachten, Konstruktionsideen hatten, mit Fiktion umgingen.)
*
Ein „Oberschüler aus Itzehoe“. In der Diskussionssendung „Verdrängt das Kino das Theater“ (Bayrischer Rundfunk, 6. Juni 1968, Moderation Peter Hamm) gibt es eine Passage, in der es um Sprache im Film geht, die Theodor W. Adorno für „uneigentlich, scheinhaft“ hält, schon weil der Film zweidimensional sei. „Auch der Sprechfilm ist stumm.“ Ein Film wie Film von Samuel Beckett mit Buster Keaton (1965) müsse selbstverständlich stumm sein. Uwe Nettelbeck hingegen interessiert sich weder für das Theater noch für die Avantgarde – er hält Adorno den „normalen“ Film entgegen, den Film als „Gebrauchsgegenstand“, und führt dazu das Beispiel eines „Oberschülers aus Itzehoe“ an. Der habe unter anderem einen Film gedreht, in dem ein Stück der Rolling Stones abgespielt werde und die Nadel des Plattenspielers in der letzten Rille hängenbleibe – zu Bildern aus Itzehoe.[2]
Ich glaube, man kann diesen Film als St’ von den Stones von Rainer Boldt identifizieren (BRD 1967, 10 Minuten). Boldt hatte ja schon früh seine Filmleidenschaft entdeckt – und auch praktisch gemacht mit einer Vielzahl von kleinen Filmen. ‚Versuchen’, die auch dadurch bestechen, dass keine Institution mit ihren Vorgaben dazwischen geschaltet ist – was schon mal eine andere Art von Lebendigkeit und Frische garantiert. Ich nenne ein paar Titel: Ein Schmetterling (1965, 23 Minuten), Vivre sa vie (1966, 10 Minuten), Nachtrag zu einer unwahrscheinlichen Gaby (1966, 28 Minuten), Slumberland (1967, 19 Minuten), Die Zeit hat zugebissen (1968, 11 Minuten).[3] Zu letzterem Film wird im Programmheft ‚Hamburger Filmmacher Cooperative (1968-1972)’ Klaus Wyborny zitiert mit: „Ein Film, der so bewusst ist, wie ein Film nur bewusst sein kann, und gleichzeitig ist er mit einer Selbstverständlichkeit gemacht ...“ (Kino im Sprengel, Hannover, 25.9. bis 5.12 2015).[4]
Von Herbst 1968 bis Frühjahr 1971 hat Rainer Boldt an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Westberlin studiert, die ja damals – nach der Relegation von 18 Studenten im November 1968 – im Umbruch war. Das heisst, er hat sich politisiert – siehe etwa Kunstpreis 69 und seine Beteiligung bei Requiem für eine Firma, 1969, oder Schülerfilm III, 1970 –, darüberhinaus gibt es von ihm auch kleine Filmexperimente und Kurzfilme zusammen mit Roland Hehn. [5]
Wahrscheinlich war es so, dass Rainer Boldt auf dieser Linie gerne weitergearbeitet hätte – Projekte zur Filmförderung einreichte, aus denen nichts wurde – und also beim TV gelandet ist. Wobei immerhin Erwachsene, welche die Kinder-Serie Neues aus Uhlenbusch damals gesehen haben, bis heute angetan darüber sprechen.
Fußnoten:
[1] https://dffb-archiv.de/dffb/ach-viola
[2] Grossen Dank an Stefan Ripplinger, von dem dieser Hinweis kommt und der mir das Radiogespräch (mit Adorno, Joachim Kaiser, Martin Walser, Nettelbeck) übermittelt hat: https://www.br.de/mediathek/podcast/nachtstudio/theater-vs-kino-was-ist-verstaubter/1461426
[3] „Gucklöcher in ein vergangenes Itzehoe – der Filmclub Extra zeigt Filme der alten KKS-Film AG.“, November 2017: https://www.m1-hohenlockstedt.de/lokal/filmclub-extra/kks-film-ag-festival/
Eine zweite ausführlichere Werkschau Rainer Boldt fand im Februar 2018 statt: https://www.m1-hohenlockstedt.de/lokal/filmclub-extra/rainer-boldt-ein-filmemacher-aus-hohenlockstedt/
[4] http://www.kino-im-sprengel.de/download/Programmheft_Hamburg.pdf
[5] https://dffb-archiv.de/dffb/rainer-boldt
Dortmund (edition offenes feld) 2020, S. 108-114.
ACH VIOLA
(Rainer Boldt, BRD 1971, 16mm, s/w, Farbe, 36 Minuten)
Eine Exposition, die es in sich hat!
Eine Totale nimmt, aus einer Seitenstrasse heraus, einen Aspekt der ‚Schlacht am Tegeler Weg’ in Westberlin auf – wildes Geschehen, Wasserwerfer, Polizei, steinewerfende Demonstranten (ein Häufchen Pflastersteine liegt wie griffbereit am Strassenrand). Das Bild friert ein, wird zum Standbild, das sich langsam aufzulösen scheint – sich verkehrt zum Negativ. Eine helle Männerstimme (der Autor?) gibt im Off eine Bestandesaufnahme der Ausserparlamentarischen Opposition. (Dieser Novembertag 1968, an dem sich die aufgestaute Wut über die Nazi- und Klassen-Justiz Luft machte, die Polizei in die Flucht geschlagen wurde, war Apotheose und Endpunkt der APO.)
„Westberlin im November 1970“. Musik hat eingesetzt, nachtdunkle Gebäude, abgesetzt gegen den helleren Nachthimmel, dann schwarze Nacht, ein paar Lichter, man erkennt die Leuchtschrift ‚First National City Bank’, den sich auf dem Europacenter drehenden Mercedes-Stern, ein Polizeiauto, das Gesicht einer Frau – schläft sie, träumt sie? Über der ganzen nächtlichen Sequenz – zu spüren sozusagen die kalte kapitalistische Hand auf der Stadt – hängt der (statische) symphonische Akkord von Charles Ives’ „The Unanswered Question“, mit der darüber gesetzten, von der Trompete formulierten Frage, den immer erratischer werdenden Antworten der Bläser. Die Musik verklingt dissonant – in die Stille hinein hört man eine Kirchenglocke sechs Mal schlagen. Die Frau (Marianne Lüdcke als Viola) hat die Augen geöffnet, liegt nun wach im Bett, das Zifferblatt der Uhr an ihrem Arm leuchtet ins Halbdunkel, gibt das Diktat des getakteten Alltags vor. Sie steht auf, macht Licht, nimmt ein Medikament.
Zuvor schon (flashartig) eine Einstellung aus einem Chemielabor – jetzt tun die zwei Frauen, die da arbeiten, ihren Überdruss kund: sie haben genug davon, tagaus, tagein Urinproben zu analysieren – eine Veränderung muss her. Viola hat ihren Job auf Ende Monat gekündigt, will das Abitur nachmachen. Und politisch arbeiten.
Aber wie? Was tun? Rainer Boldt versammelt Bruchstücke einer Auseinandersetzung zwischen denen, die auf die Theorie und die Parteilinie setzen, und jenen, die ihnen vorwerfen (wie Viola), dass bei ihnen „immer alles so unheimlich richtig sein soll“, dass sie aber jedes Risiko scheuen und nichts mehr an Widerstand wagen. Bei einer Diskussion zu mehreren am Wirtshaustisch wird dieses Gegenüber schon räumlich gesetzt, dann auch bei einem kurzen Dialog zwischen Viola und ihrem Freund in der U-Bahn.
Es gibt, davor, jedoch auch die nächtliche Umarmung der beiden vor diesem unheimlichen Gebäudekomplex (einer Kriegshinterlassenschaft, aus der „doch irgendwas zu machen“ wäre), wobei die Dunkelheit ihre beiden Körper fast verschluckt. Das Prekäre ihrer Beziehung scheint sich jedoch schon in der Klangschärfe der Stimme des Mannes mitzuteilen – der Intonation des Satzes zum Beispiel, mit dem er die Freundin begrüsst: „Geht es dir gut, ja?“
Viola hat sich, mit zwei anderen, zum ‚Fanal’ entschlossen – der Plan ist, ein Polizeiauto hochgehen zu lassen durch einen Brandsatz. Rainer Boldt macht diesen Entschluss jedoch nicht verbal klar, sondern körperlichsinnlich durch die langen Momente zu Hause, wo Viola für sich ist, frühmorgens: wie sie (wie für das unbekannte Nachhinein) die ärgste Unordnung beseitigt, die Wäsche wegräumt, die Medikamente in eine Tüte packt, Papiere ordnet (ein Packen Flugblätter mit einem Streikaufruf fliegt zu Boden), Wasser aufsetzt, etwas zu sich nimmt, ein Auto-Nummernschild samt verhüllender Zeitung in eine Plastiktüte steckt, vor dem Spiegel ihr Gesicht schminkt und ihre Jacke sorgfältig von oben bis unten zuknöpft, dann wie regungslos wartet, bis sie – auf das Klingeln des verabredeten Anrufs hin – das Haus verlässt. Und, weil es früher ist als gewohnt, auf der Treppe gleich einem Hausbewohner in die Arme läuft, mit dem sie ein paar verbindliche Worte wechseln muss.
Der Anschlag selbst wirkt dann geradezu läppisch – das morgendliche Licht (das in strengem Gegensatz steht zum Vorherigen des Films) lässt das Geschehen nüchtern erscheinen, ernüchtert wohl auch die Kombattanten, die im Fluchtauto erst einmal schweigen. Und sich daraufhin ein paar Gedanken machen, ob sie erkannt worden seien, wie es weitergehen könnte. Auf die Erwägungen, die vom Genossen auf dem Hintersitz kommen – er sagt, es gehe darum, ein „Bild“ zu setzen, wie Gewalt zu brechen sei und spricht von „Verweigerung, auch der herrschenden Moral“ –, entgegnet Viola: „Ich seh’ das alles ganz anders.“
Ach Viola (das war der Abschlussfilm von Rainer Boldt an der Deutschen Film- und Fernsehakademie) [1] hebt sich von andern DFFB-Produktionen aus der Zeit ab – ist filmisch und ästhetisch avancierter. Das ist ein Geflecht von sorgfältig montierten Einstellungen und Tönen; der Film arbeitet nicht nur mit Realzeit, sondern auch mit Wiederholungen, Variationen, stellt einen Empfindungs- und Denkraum her. Das bedeutet aber auch, dass das ‚eingreifende Filmen’ und vor allem das Konzept des ‚Zielgruppenfilms’ verabschiedet ist – zugunsten des Autorenfilms. Das scheint mir legitim, insofern das ja auch wie ein Blick von aussen ist – ein Soziogramm einer Gruppe von Leuten vielleicht, ein Verweis auf die Zeit. Der Einsatz der Musik, „Die unbeantwortete Frage“ – ihr ist später ein gesummtes, instrumental werdendes Liedchen („Backstreet Girl“ von Jagger und Richards) hinzugesetzt –, mag zwar auf die Aktualität, die Zeit zielen, weist aber auch stark darüberhinaus. Will den Lauf der Welt in sich hereinnehmen oder anrufen.
(Merkwürdig die Rolle, die gerade dieses Stück von Ives damals bei einigen Filmakademisten und Ex-Filmakademisten gespielt hat, auch bei Harun Farocki, aber scheinbar unabhängig voneinander. Bei solchen wohl, die operativ dachten, Konstruktionsideen hatten, mit Fiktion umgingen.)
*
Ein „Oberschüler aus Itzehoe“. In der Diskussionssendung „Verdrängt das Kino das Theater“ (Bayrischer Rundfunk, 6. Juni 1968, Moderation Peter Hamm) gibt es eine Passage, in der es um Sprache im Film geht, die Theodor W. Adorno für „uneigentlich, scheinhaft“ hält, schon weil der Film zweidimensional sei. „Auch der Sprechfilm ist stumm.“ Ein Film wie Film von Samuel Beckett mit Buster Keaton (1965) müsse selbstverständlich stumm sein. Uwe Nettelbeck hingegen interessiert sich weder für das Theater noch für die Avantgarde – er hält Adorno den „normalen“ Film entgegen, den Film als „Gebrauchsgegenstand“, und führt dazu das Beispiel eines „Oberschülers aus Itzehoe“ an. Der habe unter anderem einen Film gedreht, in dem ein Stück der Rolling Stones abgespielt werde und die Nadel des Plattenspielers in der letzten Rille hängenbleibe – zu Bildern aus Itzehoe.[2]
Ich glaube, man kann diesen Film als St’ von den Stones von Rainer Boldt identifizieren (BRD 1967, 10 Minuten). Boldt hatte ja schon früh seine Filmleidenschaft entdeckt – und auch praktisch gemacht mit einer Vielzahl von kleinen Filmen. ‚Versuchen’, die auch dadurch bestechen, dass keine Institution mit ihren Vorgaben dazwischen geschaltet ist – was schon mal eine andere Art von Lebendigkeit und Frische garantiert. Ich nenne ein paar Titel: Ein Schmetterling (1965, 23 Minuten), Vivre sa vie (1966, 10 Minuten), Nachtrag zu einer unwahrscheinlichen Gaby (1966, 28 Minuten), Slumberland (1967, 19 Minuten), Die Zeit hat zugebissen (1968, 11 Minuten).[3] Zu letzterem Film wird im Programmheft ‚Hamburger Filmmacher Cooperative (1968-1972)’ Klaus Wyborny zitiert mit: „Ein Film, der so bewusst ist, wie ein Film nur bewusst sein kann, und gleichzeitig ist er mit einer Selbstverständlichkeit gemacht ...“ (Kino im Sprengel, Hannover, 25.9. bis 5.12 2015).[4]
Von Herbst 1968 bis Frühjahr 1971 hat Rainer Boldt an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Westberlin studiert, die ja damals – nach der Relegation von 18 Studenten im November 1968 – im Umbruch war. Das heisst, er hat sich politisiert – siehe etwa Kunstpreis 69 und seine Beteiligung bei Requiem für eine Firma, 1969, oder Schülerfilm III, 1970 –, darüberhinaus gibt es von ihm auch kleine Filmexperimente und Kurzfilme zusammen mit Roland Hehn. [5]
Wahrscheinlich war es so, dass Rainer Boldt auf dieser Linie gerne weitergearbeitet hätte – Projekte zur Filmförderung einreichte, aus denen nichts wurde – und also beim TV gelandet ist. Wobei immerhin Erwachsene, welche die Kinder-Serie Neues aus Uhlenbusch damals gesehen haben, bis heute angetan darüber sprechen.
Fußnoten:
[1] https://dffb-archiv.de/dffb/ach-viola
[2] Grossen Dank an Stefan Ripplinger, von dem dieser Hinweis kommt und der mir das Radiogespräch (mit Adorno, Joachim Kaiser, Martin Walser, Nettelbeck) übermittelt hat: https://www.br.de/mediathek/podcast/nachtstudio/theater-vs-kino-was-ist-verstaubter/1461426
[3] „Gucklöcher in ein vergangenes Itzehoe – der Filmclub Extra zeigt Filme der alten KKS-Film AG.“, November 2017: https://www.m1-hohenlockstedt.de/lokal/filmclub-extra/kks-film-ag-festival/
Eine zweite ausführlichere Werkschau Rainer Boldt fand im Februar 2018 statt: https://www.m1-hohenlockstedt.de/lokal/filmclub-extra/rainer-boldt-ein-filmemacher-aus-hohenlockstedt/
[4] http://www.kino-im-sprengel.de/download/Programmheft_Hamburg.pdf
[5] https://dffb-archiv.de/dffb/rainer-boldt